Eine Freundschaft fürs ganze Leben

Wie zwei 91-jährige Frauen ausWernigerode über viele Jahrzehnte Kontakt halten

Kennengelernt haben sie sich 1955, in Freundschaft verbunden sind sie bis heute. Nun treffen sich zwei Seniorinnen, beide Jahrgang 1930, nach Problemen wegen Corona wieder regelmäßig – in der ehemaligen Schokoladenfabrik in Hasserode.

Ihre Freundschaft besteht seit mehr als 65 Jahren, doch Corona brachte für Irma Stallmann und Irmtraut Becker – beide 91 Jahre alt – arge Einschränkungen bei der Kontaktpflege mit sich. Nun sehen sich die beiden rüstigen Senioren wenigstens einmal pro Woche wieder: In der Tagespflege der Gemeinnützigen Gesellschaft für Sozialeinrichtungen Wernigerode (GSW) in der ehemaligen Argenta-Schokoladenfabrik. Stallmann, geboren und aufgewachsen in Stettin, flüchtete kriegsbedingt 1945 nachWernigerode.
Dort lernte sie ihren Mann Karl kennen und heiratete Ende 1949, heißt es von der GSW. Die Familie lebte mit ihren zwei Kindern in Hasserode. Ihr Gatte arbeitete in der Erzgrube Büchenberg. Das Bergwerk war nach dem Zweiten Weltkrieg stillgelegt worden, nahm aber 1946 den Betrieb wieder auf. Irma Stallmann arbeitete unterdessen im Volkseigenen Betrieb der Schokoladenfabrik.

In Eisdiele hat es gefunkt

Ihre Freundin Irmtraut Becker ist laut des größten Pflegeanbieters der Harz-Stadt ebenso keine gebürtige Wernigeröderin.
Sie stamme aus Großalsleben in der Börde. Ihre Familie arbeitete in der Landwirtschaft, die junge Irmtraut absolvierte dort ihr Pflichtjahr.
Als sie 16 Jahre alt war, kam ein Ehepaar aus Wernigerode und suchte eine Haushaltshilfe. So ergab sich der Umzug. Becker sei nicht in der Anstellung bei dem Ehepaar geblieben, die junge Frau wollte mehr Freiheiten genießen und suchte sich einen Job in der Eisdiele Retschnik.
Dort lernte sie ihren späteren Ehemann Kurt kennen. Er besuchte sie jeden Tag an ihrem Arbeitsplatz, genoss das Eis und Irmtrauts Anblick. Nach der Hochzeit blieb sie vorerst zu Hause. Auch diese Ehe wurde durch zwei Kinder gekrönt, ihr Gatte arbeitete ebenfalls in der Erzgrube. Irmtraut Becker war zunächst als Aushilfe tätig, später – als der Nachwuchs Schule und Kindergarten besuchte – in Vollzeit in der Schokoladenfabrik. Die Freundschaft der Frauen begann schließlich im Februar 1955 bei einer Faschingsfeier in der Jägerklause. „Zuvor hatten sich die Damen ab und an mal gesehen, wenn sie ihre Männer von der Arbeit abholten“, heißt es von der GSW. Zu einem intensiveren Austausch sei es aber erst in der fünften Jahreszeit gekommen.
Fortan feierten beide Familien viele Feste zusammen. Gemeinsame Wanderungen, Tanzabende in der Storchmühle, unzählige Firmenfeiern und Abende in Restaurants seien schöne Erlebnisse gewesen. Am meisten verbunden hätten Stallmanns und Beckers jedoch ein regelmäßiges Sonnabend-Ritual: Zusammen wurde gekocht, gebacken, geschlachtet und erzählt. Schließlich verschmolzen die zwei Familien fast, kein Weihnachten, kein Geburtstag oder Silvester wurde ohne die anderen gefeiert.

Gemeinsam auf Reisen

„Wir hatten nicht viel, aber wir haben gerade deshalb alles so genossen. Haben uns Zeit genommen“, erinnert sich Irma Stallmann. „Wenn es meine leckeren Pfannkuchen gab, dann standen wir schon früh am Morgen zusammen. Auch den Heringssalat zu Silvester haben wir mit Liebe gemacht.“ Bei solchen Rückblicken strahlen auch die Augen ihrer Freundin. „Die Pfannkuchen könntest du ja mal wieder machen“ entgegnet sie schmunzelnd.
Nach dem Tod der Ehemänner verreiste das Frauen-Duo oft: Drei Mal im Jahr ging es in den Kurzurlaub, aufs Schiff oder nach Moskau. Ausflüge mit Busunternehmen im Harz erfreuten sie ebenso. In der Innenstadt trafen sie sich wöchentlich mit drei anderen Damen im Café Wien. Irmtraut Beckers 90. Geburtstag im Jahr 2020 war vorerst der Abschluss dieser heiteren Runde. Allmählich werden Unternehmungen anstrengender und Wege beschwerlicher.
Vor sechs Jahren zog Irma Stallmann um. Sie hat sich nach dem Tod ihres Gatten eine barrierefreie Wohnung gemietet. Obwohl beide in derselben Stadt wohnen, sahen sie und und ihre Freundin sich nun seltener. Die eine könne laut GSW nicht mehr ganz gut hören und sehen, beide lernten ihre Rollatoren zu schätzen – mit über 90 Jahren vergleichsweise kleine Einschränkungen, die sich aber im Alltag bemerkbar machen. Busfahrten seien schwieriger geworden, aber wirkliche Einschnitte brachte Corona: „Diese Pandemie macht einsam! Man zieht sich zurück“, wird Irma Stallmann zitiert.
Irmtraut Becker nutze die neue Situation als Chance: Sie besuche seit Juni 2021 die Tagespflege der GSW in der ehemaligen Schokoladenfabrik. „Die Ausflüge haben mir gefehlt, nun unternehme ich hier ganz viel. Wir waren in der Glasfabrik Derenburg, sind Riesenrad gefahren, haben eine Stadtrundfahrt mit der Bimmelbahn zum Schloss unternommen“, berichtet die Rentnerin.

Gemeinschaft überzeugt

Den Kontakt zu ihrer Freundin habe sie nie abreißen lassen. Sie telefonierten viel, konnten sich mit Hilfe der Familien besuchen und gemeinsam essen. Aber die regelmäßige Treffen fehlten.
Also ermutigte Becker ihre Freundin immer wieder, dass sie doch auch die Tagespflege nutzen solle. Stallmann blieb zunächst skeptisch: „Für mich war es ein Kindergarten für alte Leute. Das wollte ich nicht.“
Aber um der Freundschaft Willen sprang sie schließlich über den eigenen Schatten und besucht seit Anfang des Jahres einmal wöchentlich doch die Schokoladenfabrik. In Gemeinschaft dieMahlzeiten zu genießen, sei viel angenehmer. Nun starten die Ausflüge der Freundinnen wieder.

Quelle: Volksstimme