Haben Psychosen einen Sinn?
Wenn eine zweitägige Fortbildung in der Wahrnehmung der TeilnehmerInnen wie im Flug vergeht, ist es gemeinhin ein gutes Zeichen. Mitverantwortlich für dieses Phänomen war am vergangenen Donnerstag und Freitag Herr Professor Dr. Thomas Bock, Leiter der Psychose-Ambulanz am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg. Heute ist er, wie er betont, nach vierzigjähriger Berufstätigkeit im Ruhestand.
Der erste Block der Fortbildung stand unter der Überschrift „EigenSinn und Psychose“, der zweite Block hatte bipolare Störungen zum Thema – zwei Krankheitsbilder also, die uns MitarbeiterInnen von der Tagesstätte, vom Plemnitzstift, Parkhaus und Haus Anna sowie vom Haus Thomas Müntzer immer wieder im Arbeitsalltag begegnen. So wünschten sich viele von uns in der Eingangsrunde, besser für den Umgang mit Betroffenen gewappnet zu sein, mehr über diese psychischen Erkrankungen zu erfahren und dadurch den betroffenen KlientInnen individuell gerecht werden zu können.
Ungewohnt für die meisten war es, den Blick weg von Theorien und vom Arbeitsalltag mit den BewohnerInnen und ihren Diagnosen auf das eigene Selbst zu lenken: Wenn ich es mir aussuchen könnte, mit welcher Diagnose würde ich in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden wollen? Wo gab es in meinem eigenen Leben Höhen und Tiefen – und können diese Erlebnisse im Austausch mit den anderen TeilnehmerInnen ambivalent bewertet werden? Viel Raum gab es an beiden Tagen für Diskussionen, für regen Erfahrungsaustausch und für das Anführen ausführlicher Fallbeispiele aus den verschiedenen Einrichtungen. Durch seine Neugier und Offenheit ermunterte Professor Bock die Teilnehmenden dazu, von bestimmten Situationen zu berichten, und gab häufig ganz pragmatische Hinweise und Anregungen. Besonders beeindruckend war das Rollenspiel „Eine junge Stimmenhörerin“ sowie das Video über Jutta J.
Thomas Bock bezeichnet sich selbst als „Geschichtenerzähler“. In zahlreichen von ihm eindrucksvoll dargestellten Lebensläufen und ganz individuellen Erlebnissen von Betroffenen ermöglichte er den TeilnehmerInnen einen Perspektivwechsel bzw. einen Erweiterung des Blickfeldes. Möchte man einen Grundtenor dieser beiden Tage suchen, hat man ihn schnell in seiner Deutlichkeit gefunden: Der Erkrankte ist mehr als seine Erkrankung. Zu oft wird die Person aus dem Blickfeld gedrängt und der betroffene Mensch auf seine Krankheit reduziert. Deutlich positionierte sich Professor Bock gegen die Stigmatisierung von Erkrankten sowie gegen zu einseitige medikamentöse Behandlungen. Ans Herz legte er uns, gemeinsam mit den Betroffenen um das Verständnis für das Unverständliche und um den Sinn im scheinbar Irrationalen zu ringen. An uns liegt es nun, die Erkenntnisse aus diesen beiden reichhaltigen und eindrucksvollen Tagen in den jeweiligen Arbeitsalltag mitzunehmen und umzusetzen.
Anna Ditas
14. November 2021