Zwei Hallenser auf Spurensuche

Nach einer entspannten Zugfahrt von Wernigerode über Halberstadt, Aschersleben, Könnern mit Blick auf Felder, kleinere Ortschaften und Heckenwildwuchs empfing uns die Stadt grau und regnerisch. Welche Stadt?

Wenn Herr B. im Wohnheim schlechte Laune hat, ist es ein Leichtes, ihn mit einem Gespräch über seine Heimatstadt Halle an der Saale aufzumuntern. Schon lacht er wieder über typisch hallische Begriffe wie „Kleeche“, „Heeme“ und „Schnongse“. Und so entstand vor ein paar Monaten die Idee, einmal einen Tagesausflug nach Halle zu machen. Am vergangenen Donnerstag war es soweit – für Herrn B. das erste Wiedersehen mit seiner Geburtsstadt seit etwa dreißig Jahren!

Kurz nach zehn Uhr kamen wir am Hauptbahnhof an. Allein dieser hat sich in den letzten Jahrzehnten fast bis zur Unkenntlichkeit gemausert – modernisiert bietet er Platz für Geschäfte, Fastfoodketten und sogar für Friseur und Bioladen. Nach einem kleinen Rundgang vor Ort fuhren wir mit der Straßenbahn zum Franckeplatz und von da aus zur Beesener Straße. Wenigstens die Straßenbahnnummern hatten sich für Herrn B. kaum verändert, er wusste: Wir müssen die 3 nehmen! Bei der Robert-Koch-Straße stiegen wir aus, hier war die ehemalige Wohngegend von Herrn B. Er fand seinen damaligen Hauseingang und überprüfte, ob noch ihm bekannte Namen an den Klingelschildern stehen würden. Ein paar Straßen weiter hatten seine Eltern gewohnt. An der Ecke hatte Herr B. seine Stammgaststätte, den „Südpol“, in dessen Räumlichkeiten heute ein griechisches Restaurant zu finden ist. In einem ergreifenden Moment zeigte er mir die Kreuzung, an der der verhängnisvolle Unfall geschehen war, aufgrund dessen er einen Unterschenkel verlor und nun eine Prothese trägt. Es war ihm wichtig, diesen Ort zu sehen und den Unfallhergang zu beschreiben. Wir blieben noch einen Moment stehen und sahen auf die dicht befahrene Kreuzung, bevor wir wieder mit der Straßenbahn 3 in die Stadt fuhren. Hier stiegen wir am Marktplatz aus und sahen das Händeldenkmal, die Marktkirche und den Roten Turm. Unsere Schritte führten uns auf den Boulevard, als mir auffiel, dass Herr B. etwas in den Nebenstraßen zu suchen schien. Ich folgte ihm, bis wir vor einem alten Backsteinhaus mit einer großen grünen Tür standen – wenigstens dieses hatte sich inmitten der neuen und abweisenden Betonbauten mit ihren Glasfassaden nicht verändert und schien auch gar nicht hierher zu passen. Hier ging Herr B. früher regelmäßig zu Begegnungen, die die evangelische Kirche für Menschen mit Behinderungen anbot. Heute ist es ebenfalls Sitz kirchlicher Arbeit, nur eben für Familienberatung. Erleichtert atmete er auf und berührte die alte Tür; sie war ihm noch vertraut. Nach einem Mittagessen schlenderten wir noch weiter über den Boulevard, nahmen später noch Kaffee und Kuchen zu uns und beschlossen alsbald, die Rückreise in den Harz anzutreten. Im Bahnhof kaufte Herr B. noch ein paar Souvenirs und bald saßen wir wieder im Zug. Müde saß mir Herr B. gegenüber, doch immer wieder sprach er von den Erlebnissen an diesem Tag und von seinen Erinnerungen an die damalige Zeit. Es sei die richtige Entscheidung gewesen, diesen Tagesausflug zu machen, so Herr B., und wer weiß – vielleicht können wir ihn eines Tages wiederholen.

Anna Ditas, Ergotherapeutin

Haus „Thomas Müntzer“

07.02.2022